Zurück Interdisziplinäres Forum »Jüdische Geschichte und Kultur in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne«
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Referate der 5. Arbeitstagung, 13. – 15. Februar 2004

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Kommt noch etwas nach der Missionsgeschichte? Konversionen zwischen Judentum und Christentum und ihre historiographische Betrachtung

Rotraud RIES

In der Einführung in den jüdischen Teil des Themas widmete sich ROTRAUD RIES einigen Grundlagen, dem Forschungsstand, Aspekten der Chronologie, der Bedeutung von Individualität und Handlungsspielraum, einer Fallstudie sowie Forschungszielen und -themen. Von diesen Punkten soll hier nur der Forschungsstand angesprochen werden (s. die Bibliographie am Ende), während einige weitere Stichworte, die in der Einführung genannt wurden und sich im Laufe der Tagung für die weitere Diskussion als fruchtbar erwiesen, im Fazit wieder aufgegriffen werden.

Konversionen von Juden zum Christentum sind ein Thema seit es Bücher und v. a. gedruckte Bücher gibt. Biographische und autobiographische Bekehrungsberichte gehören in den Kontext christlich-jüdischer Auseinandersetzung und formieren einen nicht unerheblichen Teil des judenfeindlichen Arsenals christlicher antijüdischer Publizistik (Beispiel: Martin Luther). Themen, Perspektiven und Diktion dieser umfangreichen Publizistik haben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Forschung beeinflusst, die dominant als Missionsgeschichte geschrieben wurde. Dem Sammlerfleiß des 19. Jahrhunderts sind dabei einige Publikationen zu danken, die heute als Fallsammlungen noch eine gewisse Bedeutung haben. Auf den ersten Blick wirkt der Forschungsstand seit dem 20. Jahrhundert reichhaltig, erweist sich jedoch bei genauerem Hinsehen als disparat und wenig befriedigend. Es fehlen weitgehend und schon erst recht moderne Fragestellungen, der Versuch, Konversionen in ihren sozialen und biographischen Kontext zu stellen; auf verlässlicher statistischer Grundlage beruhende Überblicksdarstellungen müssen erst noch geschrieben werden. Zur Missionsgeschichte gehört die überwiegend christliche Perspektive: Von Seiten jüdischer Historiker hat man sich kaum mit den Apostaten befasst (Ausnahmen: SCHOCHAT, KEDAR, jetzt HERTZ und v. a. CARLEBACH).

Ein zentrales Charakteristikum der Forschungssituation ist ihre Fragmentierung, die in der Nutzung je unterschiedlicher Quellen und damit voneinander erheblich abweichenden Ergebnissen begründet ist. So sind z. B. manche statistischen Angaben mit Vorsicht zu genießen (s. KEDAR mit Kritik an SCHOCHAT); manche Ergebnisse FRIEDRICHs, die er auf der Grundlage seiner theologisch-normativen Quellen macht, zu hinterfragen (s. AGETHEN). Lokale und regionale Untersuchungen bieten zwar den unmittelbaren Zugriff auf die Quellen und ermöglichen die Kontextualisierung. Doch vielfach wurden Juden nicht an ihren Herkunfts- oder Wohnorten getauft.

Natürlich gibt es nicht »den« Konvertiten, sondern viele einzelne Gruppen, die meist separat und mit unterschiedlichen Ergebnissen untersucht worden sind: Männer und Frauen, Ungebildetete und Gebildete, Reiche und Arme, Sesshafte und Vaganten, Unauffällige und Delinquenten. Prominente Aufmerksamkeit erregt haben in Gegenwart und Vergangenheit die relativ gebildeten Juden, die nach der Konversion eine autobiographische Bekehrungsschrift verfasst haben bzw. unter deren Namen eine solche erschienen ist. Sie haben also deutliche, allerdings mit ganz bestimmter Absicht angelegte Quellenspuren hinterlassen, denen Graf und zuletzt Carlebach nachgegangen sind. Graf bietet eine wichtige, aber doch mit zu heißer Nadel genähte Einführung in diese Quellengruppe, während Carlebach die Schriften in einem sehr breiten zeitlichen Horizont und aus einer faszinierenden jüdisch-kulturgeschichtlichen Perspektive analysiert hat, jedoch die soziale Kontextualisierung des Konversionsgeschehens nicht berücksichtigt.

Handelte es sich bei der Gruppe der Delinquenten, die vorzugsweise vor der Hinrichtung missionarisch »bearbeitet« wurden, in der Regel um Angehörige der vagierenden Teile der jüdischen Unterschicht, die nicht zuletzt aus sozialer Not ins kriminelle Milieu gerieten, so wählten andere aus dem gleichen Grund die Option der Taufe. Einzelne wurden kriminalisiert, weil sie sich mehrfach taufen ließen (s. BURSCH). Ihnen allen ist – abgesehen von GLANZ – noch wenig systematische Aufmerksamkeit geschenkt worden. JUTTA BRADEN hat am Beispiel von Hamburg (1760er–1780er Jahre) gezeigt, dass die Unterschichten einen wesentlichen Anteil der Population in einer Proselytenanstalt stellten. Dabei hat sie zum ersten Mal sehr überzeugend eine geschlechtergeschichtliche Perspektive gewählt, die von Hertz zwar eingefordert, aber auf zweifelhaft repräsentativer Quellengrundlage nicht eingelöst wurde. In Ergänzung zu diesem sozial- und geschlechtergeschichtlichen Ansatz haben Hüttenmeister und Litt auf die gravierenden Folgen einer Konversion für die Familie hingewiesen. Die Bedeutungsverschiebung der Konversion seit dem letzten Viertel des 18. Jhs., ihre neue säkulare Rolle als Akt individueller Protoemanzipation erhellt schließlich aus den Studien von Honigmann, Kisch und Lowenstein.

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